Zahl des Monats: 27,5. Lichtenberg hinten beim Autobesitz – vorn bei autozentrierter Verkehrspolitik
In einem ganzseitigen Artikel stellt die Berliner Zeitung vom 27.8.2021 unseren Bezirk vor. Dort wird mit viel Liebe zum Detail der Wandel beschrieben, den Lichtenberg derzeit durchläuft. Passend zu den bevorstehenden Wahlen stehen natürlich Wahlkreise, Kandidat:innen und Prognosen im Vordergrund. Zudem komplettieren einige interessante statistische Daten das Bild des Bezirkes.
Hinten beim Autobesitz
Die aus Mobilitätssicht interessanteste Zahl wird eher am Rande beschrieben: In Berlin sind insgesamt 1,22 Millionen private PKW zugelassen, von denen nur 86.180 auf Lichtenberg entfallen. Daraus errechnet sich ein Besitz von 27,5 privaten PKW pro 100 Einwohner:innen. Damit ist Lichtenberg einer der Bezirke, in denen es pro Kopf am wenigsten Autos gibt, wie in der folgenden Tabelle deutlich wird.
Tabelle 1: Privater PKW Besitz im Bezirksvergleich (Datenquellen: Berliner Zeitung, Amt für Statistik Berlin-Brandenburg)
Platz | Private PKW pro 100 Einwohner:innen | Bezirk |
12 | 18 | Friedrichshain-Kreuzberg |
11 | 19 | Mitte |
10 | 27 | Neukölln |
9 | 27 | Pankow |
8 | 27,5 | Lichtenberg |
7 | 28,9 | Charlottenburg-Wilmersdorf |
Wenn man von den dargestellten Zahlen für den privaten Autobesitz ausgeht, sollte Lichtenberg also eine ähnliche Mobilitätsstruktur wie vergleichbar gelegene und ausgestattete Bezirke haben. Als Vergleichsmaßstab für verkehrliche Belange kommen Bezirke wie Pankow und Charlottenburg-Wilmersdorf in Frage, die beide eine leicht unterdurchschnittliche PKW-Dichte und wie Lichtenberg neben Innenstadtbereichen auch Randlagen aufweisen.
Lichtenberg im Vergleich zu Pankow und Charlottenburg-Wilmersdorf
Spannend ist also die Frage, wie sich die in diesen drei Bezirken zurückgelegten Wege einerseits auf den Umweltverbund aus Fußgängern, Radfahrenden und den ÖPNV verteilen. Andererseits soll untersucht werden, welchen Anteil der motorisierte Individualverkehr (MIV) hat. Hierfür können die Daten des Forschungsprojekts „Mobilität in Städten – SrV 2018“ der TU Dresden (Quelle: https://www.berlin.de/sen/uvk/verkehr/verkehrsdaten/zahlen-und-fakten/mobilitaet-in-staedten-srv-2018/ ) Verwendung finden, die durch Befragung von Haushalten in den jeweiligen Bezirken gewonnen wurden.
In der Abbildung 1 wird die Verkehrsmittelnutzung zwischen den drei ausgewählten Bezirken verglichen. Während der Fußverkehr in allen Bezirken ähnlich hoch vertreten ist, fällt auf, dass die Anteile an öffentlichen Verkehrsmitteln und für MIV in Lichtenberg deutlich höher sind als in den beiden Vergleichsbezirken. Zudem ist der Radverkehr in Lichtenberg signifikant geringer ausgeprägt als in den beiden anderen Bezirken. Die Ursachen für die niedrigen Radverkehrsanteile in Lichtenberg sind bereits durch die TU Berlin im Jahr 2015 in Form eines Mobilitätsberichtes (Quelle: https://www.ivp.tu-berlin.de/fileadmin/fg93/Lehre/Ergebnisse_Lehre/MoFo_Mobilit%C3%A4tsbericht_Lichtenberg2_webansicht_1.pdf ) aufgearbeitet worden: „Lichtenberg weist deutliche Defizite im Bereich des Radverkehrs und zusätzlich ein negatives autogerechtes Stadtbild auf, was sich auf die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum nachteilig auswirkt.“
Insofern sind die Ergebnisse des Bezirksvergleiches für Lichtenberg also keine Überraschung. Wie kann es nun sein, dass die seit dem Jahr 2015 vorliegenden Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen der TU Berlin keinen Einfluss auf die Bezirkspolitik in Lichtenberg gefunden haben?
Bisher: Unsoziale CDU-Mobilitätspolitik für Bessergestellte
Die Ursache liegen sicherlich bei denjenigen, die die bezirkliche Verkehrspolitik in den letzten fünf Jahren zu verantworten hatten, also bei den CDU-Verkehrsstadträten Nünthel und Schaefer. Wenn man den Äußerungen des Verkehrsstadtrates Martin Schaefer in einem Artikel in der Berliner Morgenpost vom 10.8.2021 folgt, scheint er in seiner Politik davon auszugehen, dass Lichtenberg weit vor den Toren der Stadt liegt. Dort behauptet er, dass Lichtenberg kein Innenstadtbezirk sei und „für unsere Nachbarinnen und Nachbarn lange Wegstrecken zu sichern und zu versorgen“ seien. Anhand der für Lichtenberg dargestellten Zahlen stellt sich das als unbegründete Behauptung dar. Besonders pikant ist auch, dass in jenem Artikel in der Berliner Zeitung, andere Politiker zu exakt gegenteiligen Einschätzungen kommen. Sebastian Schlüsselburg, der für die Linkspartei 2016 das Direktmandat für das Berliner Abgeordnetenhaus holte, sieht Lichtenberg als „perfekten Ort“ für ein nachhaltiges Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten. Ein Stadtteil der kurzen (Arbeits-)wege, wo „die Massen nicht jeden Tag raus vor die Stadt pendeln“.
Da Stadträte ja die grundlegenden Zahlen ihres Bezirkes kennen sollten, muss man hier wohl von einem Rechtfertigungsversuch für die in Lichtenberg ausgeführte MIV-fokussierte CDU-Verkehrspolitik zu Gunsten eines bessergestellten Klientels ausgehen. In Lichtenberg besitzen 44% aller Haushalte keinen privaten PKW, wobei die von der TU Dresden erhobenen Zahlen verdeutlichen, dass PKW-Besitz bzw. -Zugang ganz klar von der sozialen Stellung abhängig sind:
Tabelle 2: Verfügbarkeit des Zugangs zu PKW nach ökonomischem Status (Quelle: TU Dresden)
Ökonomisch schlechter gestellte Haushalte haben also tendenziell weniger Zugang zu einem PKW und sind auf die verbleibenden Verkehrsmittel angewiesen. Damit stellt die von den genannten CDU-Politkern in den vergangenen fünf Jahren praktizierte Bevorzugung des MIV bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Umweltverbundes nicht nur eine unzeitgemäße und klimaschädigende, sondern auch eine unsoziale Politik dar, die vor allem Bessergestellten den Zugang zu Individualmobilität sichert.
Lichtenberg braucht einen Neustart in der Mobilitätspolitik
Insgesamt steht Lichtenberg in der kommenden Legislaturperiode vor der Aufgabe, Grundsätze und Ziele für eine ausgewogene, sozial gerechte und Klimaschutz-kompatible Verkehrspolitik zu formulieren und konsequent umzusetzen. Die notwendigen Erkenntnisse liegen in Form des oben erwähnten Mobilitätsberichtes der TU Berlin bereits seit 2015 in den Schubladen des Bezirksamtes.
Im Bericht der TU Berlin werden auch konkrete Handlungsempfehlungen gegeben: „Das Potential des Radverkehrs wird nicht ausgeschöpft und deutlich unterschätzt, obwohl bereits in vielen deutschen fahrradfreundlichen Städten oder eben auch in Kopenhagen der Radverkehr bezogen auf die Zahl der Wege ungefähr den gleichen Anteil am Verkehrsaufkommen hat wie der ÖPNV. Zudem sind die Maßnahmen für den Radverkehr weitaus weniger kostenintensiv als für den ÖPNV oder den MIV.“
Durch die in den letzten Jahren zunehmende Bevölkerung bei gleichbleibenden Verkehrsflächen, haben sich die beschriebenen Mobilitätsprobleme im Bezirk weiter verschlimmert. Um dem zu begegnen und zukunftsfähig zu werden, muss Lichtenberg in der Legislaturperiode 2021– 26, den unter der Ägide der CDU-Verkehrsstadträte Nünthel und Schaefer bewusst ignorierten und verschleppten Umbau in der Mobilitätspolitik, konsequent angehen. Möglicherweise hatte der studierte Theologe Martin Schaefer die eigentliche Bedeutung des Sprichwortes „Die Letzten werden die Ersten sein“ im Sinn: „Nur, wer im Diesseits unterprivilegiert ist, darf hoffen, dass ihm dies im Jenseits vergolten wird.“ Doch so lange wollen und können wir und viele Lichtenberger:innen mit uns nicht warten.